Und ich liebe dich, ich liebe dich so sehr, dass ich manchmal nicht weiß, wo du beginnst und wo
ich aufhöre.
Vielleicht, weil du wirklich einmal ein Teil von mir warst und mein Körper vergisst, dass er dich
loslassen musste, als du diese Welt betreten hast.
Meine Mutter ist 12 Jahre alt, als sie das erste Mal von zu Hause auszieht. Ob sie nicht zu jung
sei, um auf sich selbst gestellt zu sein, hinterfragt sie genauso wenig wie die Erwachsenen um sie
herum. Wer die Chance bekommt, das Internat in der Stadt zu besuchen, schaut nicht zurück, bis
er irgendwann mit einem schicken Wagen und voll beladenen Händen zu Besuch kommt.
Selbstständigkeit scheint ein zu wertvolles Gut, um es auszuschlagen, und so trennen sie schon
bald nicht nur die Grenzen ihres Heimatdorfes, sondern auch Länder und Kontinente von ihrer
Familie.
Dann sind da natürlich noch die anderen, die schon immer da waren. Die, die sich im Schweigen
äußern, in versäumten Gesprächen und in Blicken, die – against popular belief – viel weniger
sagen als tausend Worte. Aber über die reden wir nicht.
Hatte es sie in China in immer größere Städte gezogen, verschlägt es sie in Deutschland zurück
ins Dorf. (Wenn man es so nennen kann – hier arbeitet niemand auf dem Feld, höchstens in fein
zurechtgestutzten Gärten.) So klein es hier auch sein mag, ihre Welt wird trotzdem größer. Denn
sie gehört nicht mehr ihr allein. Sie wird Mutter von zwei Töchtern, die – da ist sie sich sicher – es
auch einmal aus ihrer Welt herausschaffen werden. Dafür wird sie sie genug lieben.
Meine Schwester ist 27 und wohnt ihr ganzes Leben zu Hause. „Immer noch?“, ist meist die erste
Reaktion, die ich darauf bekomme, dicht gefolgt von einem „Warum das denn?“. Erzähle ich von
ihrer Autismus-Diagnose, genügt das in der Regel als Antwort. Dass meine Mutter sich vermutlich
bis ins hohe Alter um meine Schwester kümmern wird, ist selbstverständlich: „Das ist doch
sicherlich das Beste für das Kind.“ Erlaubt sich mein Gegenüber doch eine Reaktion, ist Mitleid oft
das höchste der Gefühle: Wie schrecklich das Ganze doch sei. Wobei ich mir selten sicher bin, ob
damit die Situation, ihre Krankheit oder meine Schwester selbst gemeint ist.
Ich schreibe das nicht, um jemanden bloßzustellen. (Außer manche von euch – ihr wisst, wenn ihr
gemeint seid.) Fehlende Sichtbarkeit und Berührungspunkte mit behinderten Menschen bringen
Ignoranz hervor, die es zu überwinden gilt, vor der jedoch zu Anfang die wenigsten geschützt sind.
Nicht mal diejenigen, die sie zur Welt bringen.
- Wo wir uns schneiden
Als meine Schwester diagnostiziert wird, ist meine Mutter 35. Dem Begriff Autismus begegnet sie
erstmals ein paar Monate zuvor in einem Buch, einem der vielen, das sie liest, um sich zu erklären,
was ihr Kind von den anderen unterscheidet. Sie schlägt die Krankheit auf Chinesisch nach und
erkennt den Begriff nicht wieder, dafür aber ihre Tochter: ihr verspätetes Laufen und Sprechen, ihr
schönes, herzliches Lachen, das gerne in unpassenden Situationen ertönt, ihre Fähigkeit, jedes
Autokennzeichen einem Ort zuordnen zu können, die Art, wie Menschen mit ihr umgehen.
Die Ungeduld, die herablassenden Blicke und die Schärfe im Ton kennt sie zu gut. Sie selbst
begegnet ihnen seltener, jetzt, wo sie richtig Deutsch spricht, wo sie weiß, wann sie zu lachen hat
und wann es sich lohnt, sich zu wehren, jetzt, wo sie gelernt hat, sich anzupassen.
Die Erleichterung nach der jahrelangen Suche nach Antworten weicht schnell einem Tatendrang:
dem Drang, so wenig wie möglich zu verändern. Wie auch vor ihrer Diagnose geht meine
Schwester auf eine normale Schule, mit normalen Mitschülern und normalen Lehrern, für die sich –
so betonen sie – nichts ändert (nur, dass sie nun stolz verkünden, ein behindertes Kind in der
Klasse zu haben). Still und heimlich legt sich eine Schablone über sie, obwohl sie eigentlich schon
immer da war – nur jetzt ist sie sichtbar. Und eine Weile geht es gut, alle sind nett, alle geben sich
Mühe, bis sie über die Linien malen will. Wo die Schablone bisher vorgab, sie zu schützen,
schneidet sie sich nun an ihren Kanten.
Beschäftigt damit, sie so zu behandeln wie alle anderen, lernt niemand, wie man tatsächlich mit
einem Kind umgeht, dessen Bedürfnisse über die Norm hinausgehen. Dass selten Individuen,
sondern mangelnde Kapazitäten und Bildung daran schuld sind, macht die realen Auswirkungen
auf Betroffene nicht ungeschehen.
Zu oft wird Inklusion als die Teilhabe behinderter Menschen an normierten Strukturen verstanden –
eine Teilhabe, die sie dankbar annehmen sollen. Doch wer ist dankbar für Strukturen, die nicht für
sie geschaffen wurden, die sie kleiner werden lassen, die sich auch von innen kaum biegen und
formen lassen, wenn man es ganz allein versucht?
Meine Schwester wird leiser, bis sie bald ganz verstummt. Über die anderen Zeichen, dass etwas
nicht stimmt, will ich hier nicht sprechen. Meine Mutter tut es damals auch nicht, noch nimmt sie
sie von der Schule. Stattdessen denkt sie an China, wo sie den Begriff Autismus gar nicht kannte.
Immer wieder erinnert sie sich, dankbar zu sein, dass ihr Kind überhaupt eine Bildung erhält. Und
sie denkt an ihre eigenen Eltern, die sie kaum sieht, seit sie sie damals wegschickten. Immer
wieder erinnert sie sich, dankbar zu sein, dass sie sie genug liebten, um ihre Beziehung
zueinander zu opfern für ein Leben, das ihr mehr geben konnte.
Das ist eigentlich alles, was sie über sie weiß: dass sie sie lieben. Eine Liebe, die so
selbstverständlich ist, dass sie keines Ausdrucks bedarf, keiner Worte oder Umarmungen.
Eigentlich sind sie sich gerade in der Stille nah – und in der Ferne –, wo sie einander lieben
können und voreinander schützen.
Nur, dass das Schweigen meiner Schwester nicht leise ist, und auch ihr eigenes dröhnt ihr bald
aus den Ohren. Wo Unausgesprochenes ihre alte Welt zusammenhielt, bringt es in ihrer neuen auf
einmal alles zu Fall. Die Wände, die sie zu schützen versprachen, vibrieren und brechen und
schneiden sie mit ihren Kanten. - Wo wir uns festhalten
Als meine Schwester 6 Jahre alt ist, bleibt meine Mutter mit ihr 24 Stunden wach. Es ist 3 Jahre
vor ihrer finalen Diagnose, als verschiedene Ärzte bei ihr verschiedene Krankheiten vermuten.
Diesmal ist es Epilepsie. Sie sitzen zusammen im Krankenhaus, es ist bereits 4 Uhr morgens, die
letzten 4 Stunden haben sie mit allen Brettspielen verbracht, die das Krankenhaus zu bieten hat.
Obwohl ich nicht dabei war, denke ich andauernd an diese Geschichte. Der Raum ist in meiner
Vorstellung dunkel und ruhig. Meine Schwester liegt im Arm meiner Mutter, beide haben die Augen
geschlossen, aber schlafen nicht. Sie halten sich an den Händen, und das Bewusstsein, dass der
andere da ist, reicht aus, um die letzten Stunden zu überstehen. Vor dem Fenster geht langsam
die Sonne auf.
Manchmal denke ich, meine Mutter ist immer noch in diesem Raum. Nur dass er in Wirklichkeit
grell beleuchtet war und meine Schwester schon nach der zweiten Partie Mensch ärgere dich nicht
schwere Lider bekam (wer kann es ihr verübeln?). Im Raum herrscht Stille. Es ist wieder 4 Uhr
morgens, meine Schwester schläft in ihrem Arm. Draußen geht bald die Sonne auf, und sie bleibt
wach.
In diesem Raum war sie nicht immer; sie baut ihn auf, nachdem die Wände einstürzen (erinnert ihr
euch? Aus dem letzten Kapitel?) und sie begreift, dass sie ihr Kind nur schützen kann, wenn sie es
nicht mehr allein lässt. Wie müde sie auch sein mag, in diesem Raum sind sie zu zweit. Sie kann
sehen, was passiert, kontrollieren, wer reinkommt und dass er wieder rausgeht. In diesem Raum
kann sie sie schützen. Also bleibt sie wach.
Keine Sorge – in der Realität geht meine Schwester auch alleine raus, recht oft sogar. In viele
verschiedene Räume (die meine Mutter alle kennt), mit verschiedenen Menschen (die meine
Mutter alle kennt). Und sie spricht wieder, sehr viel sogar, aktuell am liebsten über das Konzept der
Zeitverschiebung. Ihr Lachen ertönt wieder in unpassenden Situationen, nur dass sie seltener als
unpassend empfunden werden. Denn nach der Schule geht sie erstmals in Räume, die für sie
geschaffen wurden: Sie arbeitet in einer Werkstatt für behinderte Menschen, geht in Freizeitclubs
für behinderte Menschen und macht Fernreisen für behinderte Menschen. Hier müssen wir uns
nicht erinnern, dankbar zu sein, denn wir sind es wirklich – für die Menschen, die diese Räume
geschaffen haben, und die, die ihr Bestes geben, um sie darin zu schützen.
Und trotzdem bleibt das Gefühl, dass kein Raum je ganz sicher ist. Seit 2021 vielleicht ein
bisschen mehr, denn seitdem müssen Einrichtungen für behinderte Menschen gesetzlich
Gewaltschutzkonzepte vorweisen. Ein wichtiger, wenn auch später Schritt – und eine Erinnerung
daran, dass behinderte Menschen einem höheren Risiko ausgesetzt sind, Opfer von Gewalt zu
werden, auch dort, wo keine Gewaltschutzkonzepte existieren. Also versucht man, jeden Raum zu
kontrollieren, den sie betritt, um zu gewährleisten, dass auch dort ihre Grenzen nicht überschritten
werden – ohne zu bemerken, dass man es dabei selbst tut. War Selbstständigkeit einst ein
Privileg, das man ihr sehnlichst erkämpfen wollte, nimmt man sie ihr nun und erwartet – natürlich –
Dankbarkeit.
Eine Weile bleibt meine Mutter in diesem Raum, bleibt wach und wachsam. Meine Schwester
schläft in ihrem Arm, ihre eigenen Lider sind schon lange schwer. Im Tagtraum denkt sie an einen
Ort, wo sie keine Grenzen mehr überschreiten muss. Keine Städte- und Ländergrenzen, nicht die
ihres Kindes und nicht die eigenen. Denn auch sie würde gerne schlafen, sich in Sicherheit
wiegen, dass sie ihre Tochter irgendwann in die Obhut Fremder geben kann, ohne sich schuldig zu
fühlen.
Im Traum wartet sie nicht jahrelang auf einen Wohnheimplatz, um ihn dann doch auszuschlagen –
aus Angst, dass der Zeitpunkt noch zu früh ist und der Raum nicht geeignet. Doch noch lässt sie
niemand schlafen. Draußen geht langsam die Sonne auf, und sie hofft, dass jemand die Tür öffnet. - Wo wir uns auffangen
Als meine Mutter ein Baby war, lag sie sieben Monate auf dem Rücken. Das erzählt sie mir Jahre
später; wir sitzen zusammen im Haus ihrer Schwester und essen Sonnenblumenkerne auf dem
Sofa. Die Schalen fallen auf den Boden, als sie beginnt, von ihrer Mutter zu sprechen. Es ist eine
Geschichte von Händen, die immer beschäftigt sind – auf dem Feld, in der Küche und im Stall.
Hände, die schon vor ihr drei Kinder aufzogen und nach dem Stillen zu voll sind, um sie
hochzuheben. Die nächste Schale fällt, und sie lacht, als sie sagt, dass sie jetzt wahrscheinlich
einen platten Kopf hätte (please don’t quote me on this, falls das nicht stimmt), wäre da nicht ihre
Schwester gewesen, die sie irgendwann auf den Arm nahm. Überall trug sie sie mit sich, bis sie
irgendwann alt genug war, um selbst herumzustolpern – in dem Wissen, dass ihre Arme auf sie
warten.
Oft glauben wir, uns von unserer Familie lösen zu können, irgendwann genug Kilometer zwischen
uns und die alten Muster gelegt zu haben. Doch die Vergangenheit schert sich nicht um
Ländergrenzen. Oft sind es Geister, die uns verfolgen; in diesem Fall ist es Liebe. Meine Mutter
spürt die Arme ihrer eigenen Schwester, als sie entscheidet, dass sie nicht mehr festhalten kann.
Als sie ihre Hand öffnet, ist sie überrascht, dass sie die ganze Zeit leer war – die Kontrolle nur eine
Illusion.
Loslassen ist am leichtesten, wenn man weiß, dass jemand fängt. Meine Mutter tut beides,
simultan, die ganze Zeit. Ihre Augen sind geschlossen, ihre Hände weit offen. Für Kontrolle ist
darin kein Platz mehr (eigentlich gehörte sie sowieso nie ihr), dafür aber für meine Schwester,
wenn sie fällt (und für mich, denn ich tue das noch öfter). Meine Mutter betont jetzt oft, wie wichtig
es ist, dass meine Schwester gehört wird, dass sie wahrgenommen wird. Wie oft ihre Grenzen
schon überschritten wurden, werden wir nie genau wissen, noch werden wir es je ganz verhindern
können. Alles, was wir tun können, ist Raum schaffen, wo unsere Liebe sich nicht in Grenzen
äußert – weder zueinander noch zur Außenwelt –, sondern in Geduld und Ehrlichkeit. Und wir
können dankbar sein dafür, dass wir sie haben, und uns erinnern, unsere Arme füreinander zu
öffnen; denn dort sind wir sicher.
Dieses Kapitel heißt Auffangen, weil es wie ein schöner Abschluss klingt. Ein Happy End nach
einer Geschichte des ständigen Kampfes, an dem die Liebe siegt und wir einander immer
auffangen, wenn wir über Barrieren stolpern, für die niemand etwas kann(?). In der Realität reicht
das nicht aus. Meine Mutter wird sich immer verheddern zwischen Festhalten, Loslassen und
Auffangen – bis auch sie selbst aufgefangen wird.
Zu Anfang schrieb ich, ich wolle hier niemanden bloßstellen (außer manche von euch – ihr wisst es
wahrscheinlich doch nicht, wenn ihr gemeint seid), aber jetzt tue ich es doch: Erzähle ich, dass
meine Mutter mit zwölf von zu Hause auszog, reagieren die meisten genauso schockiert, wie wenn
sie von meiner Schwester erfahren, die mit 27 noch zu Hause wohnt. Bis sie die Gründe hören –
dann ist das alles auf einmal traurig und heldenhaft zugleich. Zu oft tendieren wir dazu, uns über
alles zu empören, was von der Norm abweicht. Bis wir erfahren, dass unser System daran schuld
ist. Dann wird der Umstand schnell als Notwendigkeit akzeptiert. Betroffenen wird für ihre Stärke
gedankt, ohne infrage zu stellen, ob diese Stärke nicht vermeidbar wäre, wenn auch sie
aufgefangen würden — nicht nur voneinander, sondern von einem System, das Wege ebnet, statt
sie zu behindern.
Ich würde es gerne hier beenden, mit einem sauberen Schnitt, doch in meinem Kopf greife ich
nach deiner Hand. Du hältst fest, wo ich loslassen will; ich schneide mich an deinen Kanten, und
für dich gebe ich nach. Wir prallen auf den Boden, und der Boden ist ganz weich, wie unsere
verschwimmenden Grenzen, da, wo wir uns am nächsten sind.
Autor:in
-
Isabel (sie/ihr)
Ich bin Isabel, sie/ihr, 24 und studiere aktuell Publizistik und Kommunikationswissenschaften in Berlin. Diese Kolumne soll eine Reflexion sein: Ein neuer Blick auf Trauer und Verlust, in einer Welt, die uns beibringt darüber zu schweigen. Und ein Findungsprozess, von neuen Formen mit diesen Erfahrungen umzugehen. Verluste sind eine der wenigen Erfahrungen, die uns über alle Schichten und Hintergründe hinweg vereint. Trotzdem reden wir kaum darüber, lassen einander allein, aus Angst, etwas Falsches zu sagen. In dieser Kolumne möchte ich die Bedeutung von Trauerprozessen in unserer Gesellschaft aufbrechen und reflektieren. Dabei möchte ich über individuelle Trauer sprechen, Verluste, die uns das Herz brechen, und wie wir einander auffangen. Aber auch über kollektive Trauer: Was bedeutet es für marginalisierte Gruppen, ihre Heimat zu verlieren, ihre Freiheiten und Rechte? Und für Mehrheitsgesellschaften die Illusion von Unschuld? Finde Isabel auf Instagram: @isabel.yng