KolumnenÜber Eigenverantwortung.

Über Eigenverantwortung.

Wenn es um psychische Erkrankungen geht, fällt irgendwann das Wort Eigenverantwortung. Warum wir unseren Umgang mit diesem Wort anders einordnen sollten.

Eigenverantwortung ist ein Wort, das uns psychisch Kranken irgendwann über den Weg läuft – ob in der Therapie, bei Nahestehenden, in der Stabilisierungsgruppe oder auf Social Media. Welche Bedeutung es dann schlussendlich für uns hat, kommt auf den Kontext an – und dieser Kontext ist wichtig. Denn er zeigt, ob es nur darum geht, die Bequemlichkeit anderer zu bedienen, oder ob er uns wirklich etwas Gutes will.

Am Schluss meines letzten Textes habe ich im Zusammenhang mit Trauma Responses die Frage gestellt, ob wir Betroffenen nun überhaupt keine Verantwortung für unseren „Output“ übernehmen müssen. Ich habe das verneint – und hier möchte ich das jetzt genauer aufdröseln. Denn ich bin der Meinung mit dem Begriff der (Eigen)Verantwortung wird in Bezug auf psychische Erkrankungen viel Schindluder getrieben und ich würde ihn gerne einmal sinnvoll einordnen.

Bevor ich mich jedoch den Trauma-Responses und weiteren Symptomatiken, die man durchaus komplexer betrachten muss, komme, möchte ich mit einem Satz beginnen, den Menschen mit einem Alkoholproblem wohl zur genüge hören: „Hör doch einfach auf zu trinken.“ Ich denke wir sind uns alle einig, dass dieser Satz gegenüber einer alkoholabhängigen Person oder einer mit einem problematischen Trinkverhalten durchaus unangebracht ist. Denn ein problematisches Trinkverhalten oder eine Suchterkrankung sind mehr als nur „zu viel trinken“. Dennoch ist in unserer Gesellschaft immer noch der Glaube verankert, dass jede:r für seinen Konsum selbst verantwortlich ist – dieses Denken kommt nicht nur von der Alkohollobby, um Werbe- oder Verkaufseinschränkungen zu verhindern. Als ich selbst noch mit meinem eigenen Konsum zu kämpfen hatte, den ich glücklicherweise selbst in den Griff bekam, wurde mir irgendwann klar: Alkohol ist überall, aber wehe jemand ist wirklich betrunken. Glühweinstände vorm Vorlesungssaal, Bier in der Mensa, 5 l Wein für 5 Euro – alles ganz normal. Aber wenn du diesen Versuchungen nicht standhalten kannst, bist du selbst schuld.Und es existieren immer noch Freund:innenkreise, in denen man anscheinend Zuhause bleiben muss, wenn man aus diversen Gründen nicht mehr in eine Bar gehen kann, oder Alkohol trinken nicht als erfüllenden Zeitvertreib betrachtet. Im Prinzip heißt es: „Das alles geht uns, die ‚normal damit umgehen‘ nichts an, das ist dein alleinges Problem!“, obwohl hier sehr viele Faktoren zusammen kommen und der der eigenen Willenskraft eine eher insignifikante Rolle spielt: die ständige Verfügbarkeit, die Beschaffenheit der Substanz, gesellschaftliche, psychische, soziale Faktoren, das alles wird uns Gott sei Dank in den letzten Jahren immer bewusster.,

Aber es wird immer noch eine Hierarchie geschaffen: zwischen dem „Normalen“ und dem „Abweichenden“. Die, die „ihren Konsum im Griff haben“ werden von denen, die „ihn nicht im Griff haben“ eingeschränkt, oder gar belästigt. Und hier haben wir den Knackpunkt.

Während das mit dem Alkohol – einfach weil es auch so ein weit verbreitetes Problem ist – immer mehr an unserer „Eigenverantwortungsverankerung“ ruckelt, gilt das wohl nicht für alle anderen psychischen Erkrankungen.

Letztes Jahr im Frühjahr habe ich an einer Stabilisierungsgruppe teilgenommen, in der wir Werkzeuge an die Hand bekamen, wie wir mit Anspannung oder Trauma-Reaktionen umgehen können. In der letzten Stunde wurde mir von einer Gruppenleiterin sinngemäß gesagt, dass alles ein Trauma sein kann, aber dass man schon etwas an sich oder in sich haben muss, dass man traumatisiert wird. Hinterher kam ein Blick, den ich nicht ganz einordnen konnte, aber wohl fühlte ich mich damit nicht. Als ich mit einer therapieerfahrenen Freundin über diesen und weitere Vorfälle in dieser Gruppe sprach, fragte sie mich, was das denn für eine komische Gruppe sei. Heute bin ich mir sicher, dass uns auf sehr subtile Weise vermittelt werden sollte, niemand anders als wir selbst seien schuld an dem Zustand, in dem wir uns gerade befinden. Nicht die, die uns diese traumatischen Erlebnisse beschert haben, nein, sondern wir mit unserem Umgang damit. In meinen Augen ist das psychische Gewalt. Dass in dieser Gruppe, angeblich Traumatisierten geholfen werden soll, bereitet mir immer noch Bauchschmerzen. Und so weit ich mich erinnere, meinte meine Therapeutin nach einer längeren Erklärung, dass ich meinem Gefühl vertrauen sollte und einfach das Nützliche was ich dort gelernt habe, für mich mitnehmen soll.

Die besagte Gruppenleiterin erzählte einmal folgende Geschichte: Ein Mann wurde aus irgendeinem Grund getriggert und hat einen quasi unschuldigen Menschen zusammengeschlagen. Währenddessen habe ich mir nichts dabei gedacht, aber mittlerweile sehe ich es als kritisch an, so eine Geschichte als Beispiel zu nutzen. Denn sie erzählt die Geschichte des unberechenbaren psychisch Kranken; Menschen mit psychischen Erkrankungen als Gefährder – kennen wir das nicht irgendwoher? Eine andere Geschichte gab sie ebenfalls zum Besten: Sie hatte einmal einen Kollegen, der sich anderen gegenüber grundsätzlich respektlos verhielt, aber ihr gegenüber hat er sich das nicht getraut, weil sie es an sich abprallen ließ. Sie machte also etwas „richtig“ und die anderen, die nicht gut behandelt wurden etwas „falsch“. Ihr seht schon: Das Bild, das hier von psychisch Kranken vermittelt wurde, war durch und durch problematisch. Die Schwachen, aber auch unberechenbaren psychisch Kranken, die sich nicht unter Kontrolle haben.

Die Realität sieht allerdings anders aus. Es gibt Menschen, die psychische Gewalt ausüben, die dafür sorgen, dass Menschen traumatisiert werden, dass Menschen krank werden und ja: sie tragen durchaus eine Schuld. Und sie werden einer Verantwortung nicht gerecht, die wir eigentlich alle tragen müssen: die Verantwortung unsere Mitmenschen zu respektieren, sie nicht wie Dreck zu behandeln.

Und dann gibt es noch die Menschen, die ignorant sind und es auch bleiben wollen. Alles was sie nicht direkt nachvollziehen können, hat bei ihnen keinen Platz, sie wollen sich nicht damit auseinandersetzen. Und das sind die Menschen, die das Wort Eigenverantwortung inflationär nutzen, die die angeblich niemandem was schuldig sind und sich nicht für irgendwas rechtfertigen müssen. Trotzdem sind sie aber der Meinung, alle anderen seien ihnen schuldig „geheilt“ zu sein und sich „nicht triggern zu lassen“ und ihre authentischen Gefühle sollen sie s gar nicht äußern, denn das ist „Trauma Dumping“. Therapiesprech ohne zu wissen, wie sich eine Traumafolgestörung überhaupt anfühlen kann und in welche Gefilde sie einen schicken kann. Die Abwesenheit von psychisch Kranken als Selfcare. Wenn man die Mental Health Bubble mal genauer anschaut, wird genau das vermittelt. Wer Symptomatik zeigt, ist die „Abweichung“, die das „Normale“ belästigt – wie beim Alkoholbeispiel. „Einfach nicht getriggert sein.“; „Hör doch einfach auf zu trinken.“ – es ist im Prinzip die gleiche Herangehensweise – nur in anderen Worten.

„Aber kann das nicht doch auch sein, dass eine Trauma-Reaktion einfach ‚drüber‘ ist?“, werden sich jetzt sicher Menschen fragen. Das bestreite ich gar nicht; und niemand muss sich gefallen lassen grundlos angeschrien, oder beleidigt zu werden, da sind wir uns alle einig. Aber darum geht es mir nicht.

In meinem letzten Text habe ich davon gesprochen, dass ich wegen meiner Trauma-Reaktionen von Menschen, die mir eigentlich nahe standen, oft nicht ernst genommen wurde, gar als „überempfindlich“ bezeichnet wurde. Ich lebte jahrelang unter Menschen, die mir das dringliche Gefühl gaben, mich selbst verteidigen zu müssen. Ich habe eine Angst, eine Sorge erzählt – sie wurde kleingeredet oder abgewunken. Wenn ich das nicht gut fand kam der Stempel: empfindlich. Die seelische Unterstützung, die man eigentlich einer:einem Freund:in geben sollte, habe ich fast nie bekommen. Irgendwann habe ich Grenzen gesetzt, wie zum Beispiel, dass man nicht kleinreden soll, was mich beschäftigt – es wurde übergangen. Zu wissen – und wenn es nur unterbewusst ist – dass man davon ausgehen muss, nicht ernst genommen zu werden, wenn man über etwas spricht, was belastend ist, führt auf Dauer zu einem ungemeinen Stress und dieser Stress hat dazu geführt, dass meine Reaktionen lauter, heftiger wurden. Und auf einmal war ich das Problem – aus einem ganz banalen Grund: Ich wollte für voll genommen werden. Am Ende war ich nicht nur zu empfindlich, sondern interpretierte angeblich ganze Situationen komplett falsch. Ableismus und Gaslighting unter dem Deckmantel der Eigenverantwortung. Das war meine Realität. Und nein, ich spreche hier nicht von systematischem Missbrauch, sondern von alltäglichen Freund:innenschaften und Beziehungen.

Ich dachte wirklich sehr lange, dass ich damit dealen muss, dass Menschen so von mir denken und ich eigentlich nur von einer handvoll Betroffenen erwarten kann. Dass das nicht so ist, lernte ich nach diesem Cut und ich auf einmal Menschen begegnete, die nicht unbedingt jeden Tag mit psychisch Erkrankten zu tun haben, aber mich nicht zu empfindlich fanden und mir auch nicht vorwarfen, dass ich bitte Eigenverantwortung lernen soll, während sie ständig meine deutlich gesetzten Grenzen überschritten. Das Einzige, was ich ihnen quasi „schulde“? Eben jenen angesprochenen gegenseitigen Respekt. Ansonsten werde ich als Mensch akzeptiert, der eben seine Probleme hat, wie jeder andere Mensch auch.Ich werde als Expertin für mein eigenes Leben angesehen, mir wird nicht vorgeschrieben, wie ich mich zu fühlen habe, nur damit andere sich besser fühlen. (Was übrigens dazu führt, dass ich unter diesen Menschen meine Belastungen oft genug vergesse und einfach ich selbst bin.)

Aber bevor ich jetzt länger abschweife: Was hat das jetzt alles nochmal mit „Eigenverantwortung“ zu tun? Und wäre es nicht in meiner Verantwortung gewesen diesen Cut zu diesen Menschen früher zu machen?

Man hat von mir etwas erwartet, was ich nicht leisten konnte und was eigentlich ein Großteil der Menschen nicht leisten kann und eigentlich auch gar nicht leisten muss. Ich sollte Verhalten, das mich verletzt hat, an mir abprallen lassen. Am Besten gar nicht reagieren – denn das Unverständnis der anderen war ja menschlich, aber meine Reaktion darauf nicht, denn ich war ja die „Abweichung“. Dass ich mir auch nur Sachen gewünscht habe, die menschlich waren, stand gar nicht zur Debatte. Ich hatte ja die Verantwortung nichts davon zu zeigen, egal wie nahe mir die Menschen standen. Deswegen war ich ja ganz alleine Schuld daran, welches Verhalten mir entgegen gebracht wurde. Eine Schuldumkehr, die nicht nur ich so erlebt habe, sondern ganz viele andere Betroffene genauso erlebten, oder gerade in diesem Augenblick noch erleben.

Und was den Cut angeht: Ich weiß wir Menschen neigen oft dazu von unserer eigenen Situation auf andere zu schließen – jede:r, der:die sich schon mal in so einer Situation befunden hat, die man später als unerträglich einordnet, weiß, dass man das einfach als Normalität akzeptiert. Man sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht – und das kann in vielen belastenden Lebenslagen so sein, wie zum Beispiel wenn man im neuen Job bemerkt unter welchen Bedingungen man vorher eigentlich gearbeitet hat.

Das Wort Eigenverantwortung wird meiner Meinung nach sehr oft missbraucht, um Grenzüberschreitungen zu rechtfertigen und sie nicht überdenken zu müssen, oder auch um sich nicht um seine eignen Mitmenschen scheren zu müssen. Dabei leben wir nicht alleine und individuell, sondern in vielen verschiedenen Gemeinschaften. Natürlich müssen wir wir selbst sein können, aber wir müssen eben auch auf andere eingehen können, uns bewusst sein, dass es Menschen mit anderen Lebensgeschichten gibt, mit anderen Prägungen, Menschen mit Erkrankungen und Traumata – das können wir nicht einfach weg ignorieren.

Die eigentliche Eigenverantwortung haben wir uns selbst gegenüber: Wir schulden uns selbst, uns menschlich zu behandeln, Hilfe zuzulassen und Wege einzuschlagen, von denen wir dachten, wir brauchen sie nicht. Wir müssen das aber nicht alleine schaffen und ganz wichtig: Diese Eigenverantwortung geht niemand anderen etwas an.

Autor:in
  • Mein Name ist Joana, ich schreibe schon seit 2018 als fraumisanthropin auf Instagram darüber, wie es ist, mit einer psychischen Erkrankung zu leben. Immer wieder fällt mir auf, dass ich in dieser Gesellschaft auf unsichtbare Barrieren stoße, dass man mir anders begegnet als anderen, egal ob sie von meinem ADHS, oder meiner Traumafolgestörung wissen. Ich möchte in dieser Kolumne Erlebnisse und Beobachtungen teilen, die mir als Betroffene über den Weg laufen, wie gewisse Symptomatiken „von innen“ aussehen, welche Vorurteile immer noch in dieser Gesellschaft herrschen und welche gesellschaftlichen Normen insbesondere für psychisch kranke Menschen (aber nicht nur!) durchaus problematisch sind. Dafür werde ich auch immer wieder persönliche Erfahrungen als Beispiel nutzen. Bitte beachtet, dass ich keine Fachperson bin, aus einer Betroffenenperspektive schreibe und auch hinsichtlich dem Krankheits- oder Neurodivergenzerleben nur über ADHS, sowie kPtBS sprechen kann.

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