KolumnenSind psychische Erkrankungen wirklich unsichtbar? – Ein Erklärungsversuch

Sind psychische Erkrankungen wirklich unsichtbar? – Ein Erklärungsversuch

In diesen Situationen war meine Erkrankung sichtbar, aber gleichzeitig auch nicht – sichtbar ist man nur, wenn auch verstanden wird, was gerade gesehen wird.

Ich finde mich draußen auf dem Platz wieder, da wo jeden Monat Flohmarkt ist. Eine Grünfläche, etwas kleiner als ein Park, in der Mitte stehen Bänke in einem Kreis, am Wochenende treffen sich hier viele Studierende – wie viel Uhr es ist? Weiß ich nicht. Es ist noch hell. Welcher Tag? Irgendeiner im Juni, oder war es noch Mai? Ich scheine genauso zu wirken, wie ich mich fühle: komplett aus der Realität raus katapultiert, fahrig, neben der Spur. Wahrscheinlich heule ich, denn eine Frau spricht mich an. Ob alles mit mir in Ordnung sei, ob ich Hilfe brauche, fragt sie mich. Da ich wirklich nicht weiß, wie mir gerade geschehen ist, schildere ich ihr, was gerade passiert ist – sie rät mir die Polizei zu rufen, was ein wirklich seltsamer Rat war. Ob ich die Frau selbst weggeschickt habe, oder ob sie überhaupt nicht einordnen konnte, was eigentlich mit mir los war, weiß ich nicht mehr. Ich weiß verdammt viele Einzelheiten nicht mehr, von diesem Tag, dieser Zeit. Heute weiß ich: Ich war getriggert.

Ich wollte in diesem Text darüber schreiben, ob psychische Erkrankungen unsichtbar sind. Vor einer Woche lief ich Menschen, die in meiner Nähe wohnen über den Weg, die mich in einer dieser Triggersituationen mitbekommen haben – zumindest ist das meine Vermutung denn die Ablehnung schlägt mir recht offensichtlich ins Gesicht. Nicht, dass sie was sagen würden, aber mein Hund wird mitleidig und ich abwertend angestarrt – und zwar so, dass ich es merken soll; diese Sprache aus Blicken kenne ich aus Schulzeiten, ich sehe, wenn man sie mir gegenüber benutzt.

Ich weiß nicht, was sie mitbekommen haben, ob es wirklich die Situation war, die ich vermute. Eine Situation, in der ich mich hilflos fühlte, schaukelte sich hoch und ich rannte wieder weinend, teilweise schreiend durch die Gegend, vermutlich auch an ihnen vorbei. Dass das Ablehnung produziert, kann ich nachvollziehen, dass sie mir nach so langer Zeit immer noch begegnen müssen wie irgendwelche Schulhofbullies, erschließt sich mir allerdings nicht.

In diesen Situationen war meine Erkrankung sichtbar, aber gleichzeitig auch nicht – sichtbar ist man nur, wenn auch verstanden wird, was gerade gesehen wird. Und diese Frau und meine neuen „Bullies“ verstanden nicht, mit was sie es gerade zu tun hatte. Das letzte Mal, als ich auf eine ähnliche Art und Weise getriggert war, ist mittlerweile schon recht lange her – vergleichsweise. Ich merke erst jetzt, unter welchem Stress ich jahrelang stand, eigentlich weiß ich nicht mal, ob es eine Phase in meinem Leben gab, in der kein Stress dieser Art existierte. Erst seit kurzem kann ich Trigger identifizieren und einordnen, erst seitdem dieser Dauerstress keine Rolle mehr spielt, sind viele Trigger keine Trigger mehr. Aufatmen kann ich dennoch nicht, aber das ist eine andere Geschichte.

Was ist ein Trigger überhaupt?

Das Wort Trigger hat in der Medizin verschiedene Bedeutungen. Die Meisten dürften den Begriff allerdings in Bezug auf Psychologie und Psychiatrie kennen. DocCheck Flexikon definiert Trigger als „Schlüsselreiz bezeichnet, der ein Flashback auslösen kann“. (https://flexikon.doccheck.com/de/Trigger)

Flashbacks sehen bei einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung (PtBS) etwas anders aus, als bei einer einfachen. Man findet sich nicht auf einmal in der traumatischen Erfahrung wieder, sondern nur in deren Emotionen, weswegen diese Flashbacks schwieriger als solche zu identifizieren sind. Das führt leider oft dazu, dass Betroffene als empfindlich oder extrem abgestempelt werden, es kommt zu Fehldiagnosen, oder es wird gar nicht erst als psychische Erkrankung identifiziert, sondern als Charakterzug abgetan. Lange Zeit dachte ich, dass meine emotionalen Flashbacks zum ADHS gehörten, aber irgendwann ließen sie sich damit nicht mehr erklären. Stand ich deshalb nach einem Streit mit meinem damaligen Freund auf einmal im Wald, überrascht, wie schnell ich auf einmal dahin gekommen war? War das einfach die Zeitblindheit, die emotionale Dysregulation, die Hyperaktivität, die nach einem Stressfaktor verrückt spielten? War es einfach meine Impulsivität, die zuschlug, die dafür sorgte, dass ich mich mit Fremden stritt, wenn sie mich urplötzlich von der Seite anmotzten, weil ich anscheinend im Weg stand? War es einfach ein „rauszonen“, wenn ich auf einmal das Gefühl hatte, unter einer unsichtbaren Glaskuppel zu leben? War es einfach nur Frust über meine Vergesslichkeit, wenn ich wieder da stand und heulte, weil ich zu spät gemerkt hatte, dass ich meinen Geldbeutel nicht eingepackt hatte und einen großen Wocheneinkauf nicht bezahlen konnte? Und warum erinnerte ich mich an das Meiste nur bruchstückhaft, wie als hätte man zig Fotografien von diesem Moment aneinander gereiht?

Eigentlich waren es emotionale Flashbacks. Die Situationen waren begleitet von Abwertungen, die ich oft in meinem Leben gehört hatte, Aussagen, die mir gegenüber gefallen sind, flogen durch meinen Kopf, für mich schlimme Situationen wurden in Bruchteilen von Sekunden wiederholt, unfertig, konfus; in diesen Momenten fühlte sich alles bedrohlich an – meistens ging ich in die Selbstverteidigung (Fight) und/oder suchte das Weite (Flight), außerdem habe ich erlebt stundenlang dazusitzen und zu nichts in der Lage zu sein (Freeze) und in Situationen mit anderen Menschen, die ich gar nicht einordnen konnte, gab es auch eine Fawn Response, was bei mir hieß, dass ich mich entweder überschwänglich entschuldigt habe, oder auf eigentlich respektloses Verhalten ganz normal reagierte und erst im Nachhinein verstanden habe, was eigentlich los war.

Ich möchte hier nicht genauer ausführen, welche Situationen dazu führen, allgemein gesagt kann ich das auch gar nicht. Ich habe mal scherzhaft gesagt, dass ich für mein ganzes Leben eine Triggerwarnung bräuchte. Eins kann ich allerdings mit Sicherheit sagen: keine einzige dieser Auslösersituationen wäre für einen Menschen ohne Trauma unproblematisch, in einigen hätte man sogar selbst ungehalten, frustriert oder ängstlich reagiert. Der entscheidende Unterschied zu mir ist zum einen die Intensität meiner Reaktion und zum Anderen das innerliche Nachspiel und die Wahrnehmung davon, welchen Einfluss das alles auf mein Leben haben wird (manchmal sitze ich da und frage mich, ob ich überhaupt noch etwas machen darf, worüber ich mich freue). Während andere nicht körperlich reagieren, bin ich ausgezehrt und manchmal ist auch der Tag einfach gelaufen.

Ich muss dazu sagen, dass ich lange erlebt habe, dass ich wegen meinen Responses nicht ernst genommen wurde, ich galt bei einigen Leuten, die sich meine Freund:innen genannt haben, als „empfindlich“ und zuweilen wurde mir sogar unterstellt, ich hätte gerne Konflikte. Es wurde auch schon so getan, als hätte ich irgendwelche Vorteile dadurch (ich frage mich immer noch welche). Wenn sehr nahestehende Menschen verständnislos reagierten, wurde für mich sogar alles noch schlimmer. Ich habe lange so gelebt, dachte, das wäre halt normal, dachte, ich müsse mehr erklären, aber selbst als rauskam, woran das alles wahrscheinlich liegt, hatte meine laute und deutliche Bitte, dass ernst zunehmen, so gut wie kein Gewicht. Mir wurde erklärt, wie ich Dinge zu finden habe, welche Perspektive ich haben sollte und welches Verhalten ich mir gegenüber zu dulden habe, denn schließlich war das ja alles der Beweis dafür, dass ich nicht fähig war diese Welt „richtig“ wahrzunehmen.

Mittlerweile sind solche Menschen kaum noch in meinem Leben, die die noch da sind, bekommen gewisse Informationen einfach nicht mehr und ich merke, dass die Tatsache mich nicht ständig selbst verteidigen zu müssen bei Menschen, die mir eigentlich den Rücken stärken sollten, einiges geändert hat. Und ich kann euch sagen: es ist eine Erleichterung. Fast habe ich selbst geglaubt, ich suche absichtlich Konflikte, wie es mir weiß gemacht werden sollte, aber ich stellte fest – es ist nicht so. Die Distanz zu diesen Menschen und auch das Verstehen, dass es sich um Trauma-Reaktionen handelt, war schon ein großer Schritt. Ich schäme mich zwar immer noch für vergangene Reaktionen, aber ich verstehe sie zumindest besser, was auch bedeutet, dass ich die Werkzeuge, die ich in der Therapie an die Hand bekommen habe, gezielter nutzen kann. Emotionale Flashbacks sind bei mir mittlerweile weniger intensiv und das „Nachspiel“, wie ich es oben genannt habe, wesentlich kürzer.

Sichtbar oder unsichtbar?

Aber mal zurück zum Anfang, zurück zum sichtbar sein, oder doch unsichtbar? Eigentlich möchte man ja meinen, dass man „alltagstaugliche“ – ich nenne sie jetzt einfach mal so – psychische Erkrankungen bis zu einem gewissen Grad verstecken kann, aber ich hatte schon öfter das Gefühl, dass gewisse Menschen meine Anspannung riechen können und darauf mit Provokation reagieren – und das aus dem Nichts. Ich hatte schon öfter das Gefühl, dass mein gestresst/gehetzt sein, ohne etwas zu sagen, Störung genug war und dazu führte, dass ohne jegliche Vorwarnung von einer völlig fremden Person etwas Abwertendes kam. In diesem Sinne ist meine Erkrankung wohl sichtbar. In sehr stressigen Phasen in denen ich sehr angespannt bin, fühle ich mich in der Öffentlichkeit nicht wirklich sicher und gehe Menschen so gut es geht aus dem Weg.

Und was ist mit den Reaktionen, die sehr offensichtlich waren?

Ich habe euch am Anfang von „meinen Bullies“ erzählt. Nehmen wir mal an, sie haben wirklich die Situation mitbekommen, die ich meine (mit ihnen fand übrigens nie eine Interaktion statt) – dann haben sie meine Reaktion gesehen, aber sie nicht verstanden und als freiwillige Handlung eines Menschen, der sich nicht in einer hilflosen Situation befand, eingeordnet. In diesem Sinne war meine Erkrankung unsichtbar, obwohl sie etwas davon mitbekommen haben. Ob es jetzt was bringen würde, wenn sie davon wüssten, über die Hintergründe informiert wären, sei dahingestellt. In ihren Augen bin und bleibe ich wohl peinlich, unangenehm und ein Arschloch, oder was auch immer sie für Bilder von mir zusammen sinnieren. Eine psychische Erkrankung wirklich zu sehen, heißt auch, sie zu verstehen, zu wissen, wie sie sich äußert. Und das wissen Viele nicht.

Seitdem ich mich mehr mit Trauma-Reaktionen beschäftige, seitdem fallen sie mir auch auf und schon davor war mir bewusst, dass extreme Emotionen, die entweder in Internet-Videos oder in Reality-Shows zum Vorschein kommen, auch welche sein könnten und dass sich die halbe Welt an sowas ergötzt. Das deckt sich auch ein bisschen mit meinen persönlichen Erfahrungen. Ich muss eine Person nicht sympathisch finden, ihre Werte nicht teilen, um anerkennen zu können, dass hier niemand einfach Krawall macht, oder „wegen einer Kleinigkeit heult“, dass sie gerade hilflos ist, beziehungsweise ihr Kopf und ihr Körper ihr gerade vorgaukeln, dass sie hilflos sind.

„Aber heißt das jetzt, dass man keine Verantwortung für sich übernehmen muss?“, werden sich bestimmt ein paar fragen. Kurz gesagt: Nein. Länger ausgeführt werde ich es in meinem nächsten Text beantworten.

Autor:in
  • Mein Name ist Joana, ich schreibe schon seit 2018 als fraumisanthropin auf Instagram darüber, wie es ist, mit einer psychischen Erkrankung zu leben. Immer wieder fällt mir auf, dass ich in dieser Gesellschaft auf unsichtbare Barrieren stoße, dass man mir anders begegnet als anderen, egal ob sie von meinem ADHS, oder meiner Traumafolgestörung wissen. Ich möchte in dieser Kolumne Erlebnisse und Beobachtungen teilen, die mir als Betroffene über den Weg laufen, wie gewisse Symptomatiken „von innen“ aussehen, welche Vorurteile immer noch in dieser Gesellschaft herrschen und welche gesellschaftlichen Normen insbesondere für psychisch kranke Menschen (aber nicht nur!) durchaus problematisch sind. Dafür werde ich auch immer wieder persönliche Erfahrungen als Beispiel nutzen. Bitte beachtet, dass ich keine Fachperson bin, aus einer Betroffenenperspektive schreibe und auch hinsichtlich dem Krankheits- oder Neurodivergenzerleben nur über ADHS, sowie kPtBS sprechen kann.

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