„Bitte erzähle es niemandem, mein Vater will nicht, dass jemand davon weiß“, so beginnt meine Freundin unser Telefonat. Sie ist gerade auf dem Heimweg von der Arbeit, ihre Oma ist vor zwei Stunden verstorben, morgen fährt sie in die Heimat, um sich zu verabschieden. Wir beide flüstern in unsere Hörer, sie ist gerade in der Bahn – wieso auch ich meine Stimme senke, allein in meinem Zimmer, ist mir selbst ein Rätsel. Ich sage ihr, dass ich mein Handy heute Nacht auf laut lasse, dass sie mich immer anrufen kann. Sie sagt, dass sie dankbar ist und sich morgen meldet. Ob wir unsere Versprechen halten, weiß wohl keiner von uns so genau. Vielleicht in einer etwas weicheren Welt, wo wir wirklich über Verlust sprechen und die Stille nicht so laut ist, dass sie jedes Wort verschluckt.
Warum uns gerade bei Verlusten der Atem stockt – eine der wenigen Erfahrungen, die uns alle miteinander verbindet – hängt sicherlich mit der Angst vor der eigenen Sterblichkeit zusammen. Lange Zeit haben wir vom Fortschrittsgedanken gelebt, dem Versprechen, dass die Zukunft stets besser sein wird als die Vergangenheit. In dieser Welt ist der Tod eine unangenehme Erinnerung daran, dass nicht jede Schwäche beseitigt werden kann, dass es Verluste gibt, denen wir unkontrollierbar ausgesetzt sind. Eine Wahrheit so beängstigend, dass Verdrängung bequemer erscheint, gar notwendig, um weiter zu funktionieren. Trauer wird zur Privatsache, wird – wenn überhaupt – im engsten Kreis besprochen, oder noch besser: einfach mit der/dem Therapeut*in.
Dennoch bahnen sich Verluste vermehrt ihren Weg in den öffentlichen Raum: Die Auswirkungen des Klimawandels, die globalen Folgen der Corona-Pandemie oder das Sterben von Menschen in Kriegsgebieten. Die Fortschrittsutopie bröckelt in ihren Grundmauern – und weckt erneut Aufmerksamkeit für unsere mangelnde Trauerkompetenz. In der Verdrängung scheinen wir verlernt zu haben, miteinander zu sprechen, zuzuhören und Fürsorge zu leisten. Stattdessen nähren wachsende Verlustängste den Boden für populistische Strömungen, die Schwache gegen Schwache ausspielen, statt im Zusammenhalt für eine Neuausrichtung zu kämpfen, die Verluste gerechter verteilt.
Wir werden verloren haben
Eigentlich wird es schon am Begriff selbst deutlich – in der Fortschrittserzählung der Moderne ist kein Platz für Verluste. Fortschreiten, Weggehen, Weiterziehen: das Zurücklassen des Alten für etwas Neues ist ein integraler Bestandteil der Fortschrittsutopie. Die Zeit existiert hier auf einer steigenden Geraden: stetig nach oben, von Tag zu Tag besser, von Generation zu Generation reicher an Möglichkeiten.
Was nun, wenn jemand seine Arbeit verliert, seine Wohnung oder einen geliebten Menschen? Wie lassen sich Verluste wie diese in ein System einordnen, das sie nicht anerkennt? Sie werden als menschliches Scheitern verklärt: Wer etwas verliert, hat einfach nicht hart genug gearbeitet, besitzt einfach nicht genug Resilienz. Diese Verdrängung von Verlust ins Private legt jegliche Verantwortung auf das Individuum und verbindet Trauer mit Schwäche und Scham.
In Erklärungsnot gerät dieses Narrativ, sobald sich Krisen nicht mehr in private Räume abschieben lassen. Sobald die Verzweiflung so laut ist, dass auch die stärksten Stigmata sie nicht mehr unterdrücken können. Im 21. Jahrhundert werden wir immer wieder Zeugen von ihnen. Häufig wird diese Potenzierung von Verlusterfahrungen einer höheren Sichtbarkeit durch soziale Medien zugeschrieben. Tatsächlich ist es jedoch der Fortschritt selbst, der Verluste vorantreibt. Der Soziologe Andreas Reckwitz spricht von Modernisierungsverlierern – denjenigen, die von rasanten sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen und der Wettbewerbsdynamik des Kapitalismus abgehängt werden. Meist treffen diese Verluste marginalisierte Gruppen, während Privilegierte sich ihnen entziehen können (Stichwort SpaceX)
Die erhöhte Aufmerksamkeit auf soziale Ungleichheiten bringt die Fortschrittsutopie ins Wanken. Uns steht eine Ära der Trauer bevor und mit ihr die Herausforderung, Verluste sozial auszuhandeln, füreinander da zu sein und Widerstand zu leisten. Nur wie, wenn uns selbst im Privaten die Worte fehlen?
Die unaussprechbare, peinliche Tatsache
An meinem Ohr rauscht die Leitung, ich lege mein Handy beiseite. Ich bin froh, dass es schon Nacht ist, dass meine Freundin schlafen kann und nicht den Tag damit verbringen muss, so zu tun, als sei nichts passiert. Auch ich bin auf einmal ganz müde, in meinem Kopf hallen Schnipsel des Telefonats nach wie ein seltsames Schlaflied. „Ich weiß gar nicht, wie man sich verabschiedet.“
Im Dorf meiner Großeltern ziehen sie dafür durch die Straßen, in Weiß gekleidet weinen sie im Chor – zuerst die Söhne, dann die Ehepartner, dann Schwiegertöchter und Töchter. Es gleicht einer Choreographie: wie sie mit gesenktem Kopf laufen, jeder Schritt im Takt zu ihrem Schluchzen. Die Soziologie bezeichnet Trauerrituale wie diese als „Doing Loss“. Also „Trauer machen“, ihr Ausdruck verleihen, immer mit gewissen Regeln. Vielleicht ist es einfacher, zu trauern, wenn es gewisse Vorgaben gibt, einen Rahmen, der einem die Hilflosigkeit nimmt, und Menschen, die mit einem mitlaufen.
In westlichen Gesellschaften beschränkt sich dieser Rahmen meist auf den engsten Kreis und irgendwann (meist schneller als gedacht) auf sich selbst. Wer selbst schon einmal einen Verlust erlebt hat, weiß, dass Trauer, trotz anfänglicher Bemühungen des Umfelds, letztlich meist auf betretenes Schweigen trifft (oft auch von sich selbst). Der französische Philosoph Jean Baudrillard beschreibt den Tod deshalb 1976 als unaussprechbare, „peinliche Tatsache“. 50 Jahre später scheint er sich jedenfalls zum Teil von seinem „peinlichen“ Image befreit zu haben: Die voranschreitende Entstigmatisierung von mentaler Gesundheit schließt auch die Themen Tod und Trauer in den Dialog mit ein. So scheint es mittlerweile gesellschaftlicher Konsens zu sein, dass es keine richtige Art zu trauern gibt. Trauernden wird mehr Verständnis gezeigt, ihr Schmerz wird ernst genommen – über den Verlust geredet wird trotzdem eher selten. Die neue Sensibilität sieht Trauer nach wie vor als etwas Privates an, eine individuelle Erfahrung, die verarbeitet werden darf, aber bitte möglichst leise. Trauer wird auch hier als linearer Prozess angesehen, der durchlaufen werden muss, um zur Normalität zurückzukehren.
In der Realität bedeutet Trauer jedoch Abschied nehmen – von einem geliebten Menschen, aber auch von der Normalität. Die Psychologie spricht von einer anhaltenden Anpassung an eine neue Wirklichkeit. Schließlich verändern Verluste das, was wir bisher als Normalität betrachteten. Sie hinterlassen eine Lücke, eine neue Realität, deren Aushandlung nie aufhört und gemeinsam geschehen muss. Was fehlt in dieser neuen Welt, was brauche ich in ihr? Eine Aufgabe, die Zeit benötigt, Mut und vor allem Räume.
Raum für Verlust
Dass diese Räume erkämpft werden müssen, zeigt die Friedensstatue des Korea-Verbands in Berlin-Moabit. Eine Frau in Bronzefarben, gekleidet in ein Hanbok, neben ihr ein leerer Stuhl – ein Mahnmal für die 200.000 Koreanerinnen und Chinesinnen, die im 2. Weltkrieg durch japanische Soldaten in die sexuelle Sklaverei verschleppt wurden. Als Symbol gegen sexuelle Gewalt sitzt sie dort seit fünf Jahren, die Hände im Schoß gefaltet, auf ihrer Schulter ein Vogel – jedenfalls noch bis zum 28. September. Nach jahrelangen Protesten der japanischen Regierung soll das Denkmal nun laut Gerichtsbeschluss abgebaut werden, da es Hass fördere und nicht mit den Werten der Versöhnung übereinstimme. Fördergelder für ein Bildungsprojekt des Korea-Verbands über sexuelle Gewalt wurden ebenfalls abgelehnt.
Werden Verluste nicht als solche benannt und anerkannt, laufen sie Gefahr, in Vergessenheit zu geraten. Betroffenen wird ihre Trauer abgesprochen, Kompensation verwehrt, Aufarbeitung gar unmöglich gemacht – bis sie irgendwann aus dem kollektiven Gedächtnis verschwinden. Wessen Trauer als legitim angesehen und verhandelt werden darf, ist (wie immer) von Machtverhältnissen abhängig. Der Mehrheitsgesellschaft unterliegt die Kontrolle und Deutungshoheit unserer Erinnerungskultur: wer zu Opfern und Tätern stilisiert wird und auch, wer gar nicht erst vorkommt. Oft sind es marginalisierte Stimmen, denen Gehör im öffentlichen Diskurs verwehrt wird. In Lampedusa fordern Familien, die Angehörige auf der Flucht im Mittelmeer verloren haben, seit Jahren Gedenkorte für Ertrunkene. Ihre Trauer stößt auf politische Gleichgültigkeit, bleibt an den Rändern der Gesellschaft.
Trotz der weiterhin bestehenden Machtgefälle bietet die Moderne neue Plattformen und somit neue Möglichkeiten, Trauer und Verlust sichtbar zu machen und Kontrolle über das Narrativ zu erlangen. Sei es durch die künstlerische Verarbeitung und Repräsentation in Kulturangeboten oder die Mobilisierung zum Protest über soziale Medien. Die Dokumentation von Ungerechtigkeit in Bild und Ton erschwert auch dem ignorantesten Augenpaar das Wegschauen und bringt bisher unterdrückte Stimmen in den Dialog. Wurde Polizeigewalt gegenüber schwarzen Menschen in den USA lange öffentlich als Einzelfälle delegitimiert oder die Schuld bei den Opfern gesucht, übte die Black-Lives-Matter-Bewegung so viel gesellschaftlichen Druck aus, dass die Öffentlichkeit (schrittweise) begann, es als strukturelle Gewalt zu diskutieren.
Trauer- und Verlusterfahrungen müssen also nicht zwangsläufig lähmend wirken. Wird ihnen der notwendige Raum geschenkt (bzw. erkämpft), können sie eine treibende Kraft für Protest und Widerstand sein. Als hochemotionale Erfahrungen können sie Communities in ihren gemeinsamen Zielen stärken und mobilisieren. Schlagen öffentlich sichtbare Verlustgefühle jedoch in Ohnmacht und Hilflosigkeit um, können sie anfällig für populistische Ideologien werden. Besonders US-Präsident Donald Trump bediente sich in seinen vergangenen Wahlkämpfen eines Narrativs von Verlust und Wiederherstellung: Etwas sei verloren gegangen – Werte, Tradition, „weiße Vorherrschaft“ – und müsse zurückerobert werden. Verlustängste werden instrumentalisiert, um Menschen zu spalten, sie gegeneinander auszuspielen und verletzlich für ihre Interessen zu machen. Diese Gefahr zeigt: Protest allein genügt nicht. Was es braucht, ist ein geteiltes Fundament – eine Kultur des Zusammenhalts, die Verlust nicht gegeneinander ausspielt, sondern in gemeinsame Verantwortung übersetzt.
Eine Rückkehr zur Menschlichkeit
Meine Freundin und ich sprechen nicht mehr über ihre Oma, wir haben es versucht, am Anfang. Bis irgendwann alles gesagt war. Unser Vokabular, mit dem wir Trauer behandeln und greifen können, ist mit den Jahren der Verdrängung geschrumpft, schien kaum ausreichend, um Gefühle zu beschreiben oder Trost auszudrücken. So ist die Stille nie ganz verschwunden – und doch hat sie ihre Schwere verloren. Die Angst, etwas Falsches zu sagen, ist einer Gewissheit gewichen: dass wir immer wieder das Falsche sagen werden und dass wir trotzdem versuchen, einander zu sehen, dass wir nicht wegschauen vom Schmerz, dass wir ihn erkennen und einander festhalten, auch wenn es schwerfällt, ihn zu lindern. Dass wir einander nicht allein lassen.
„Mein Schweigen hat mich nicht geschützt. Euer Schweigen wird euch nicht schützen“, schreibt die amerikanische Bürgerrechtlerin Audre Lorde in ihrem 1984 erschienenen Essay The Transformation of Silence into Language and Action. In ihrem Werk spielt sie auf die politische Macht von Schweigen als Unterdrückungsinstrument an: Wenn Schmerz und Ungerechtigkeit nicht ausgesprochen werden, nimmt es Betroffenen die Möglichkeit, sich mit anderen darüber zu verbinden und zu heilen. Das Leiden bleibt eine isolierte Erfahrung, bis es ausgesprochen wird – eine Isolierung, auf der Unterdrücker ihre Macht aufbauen.
Wo Schweigen Machtstrukturen aufrechterhält, öffnet ausgesprochene Trauer die Türen, um diese aufzubrechen. Aus dem gemeinsamen Betrauern entsteht die Möglichkeit, neue Formen der Fürsorge und des Widerstands zu entwickeln. Denn das ist Trauer in ihrem Kern: eine Rückkehr zur Menschlichkeit und somit eine Opposition zu denjenigen, die sie uns nehmen wollen.
Autor*inn
-
Isabel (sie/ihr)
Ich bin Isabel, sie/ihr, 24 und studiere aktuell Publizistik und Kommunikationswissenschaften in Berlin. Diese Kolumne soll eine Reflexion sein: Ein neuer Blick auf Trauer und Verlust, in einer Welt, die uns beibringt darüber zu schweigen. Und ein Findungsprozess, von neuen Formen mit diesen Erfahrungen umzugehen. Verluste sind eine der wenigen Erfahrungen, die uns über alle Schichten und Hintergründe hinweg vereint. Trotzdem reden wir kaum darüber, lassen einander allein, aus Angst, etwas Falsches zu sagen. In dieser Kolumne möchte ich die Bedeutung von Trauerprozessen in unserer Gesellschaft aufbrechen und reflektieren. Dabei möchte ich über individuelle Trauer sprechen, Verluste, die uns das Herz brechen, und wie wir einander auffangen. Aber auch über kollektive Trauer: Was bedeutet es für marginalisierte Gruppen, ihre Heimat zu verlieren, ihre Freiheiten und Rechte? Und für Mehrheitsgesellschaften die Illusion von Unschuld? Finde Isabel auf Instagram: @isabel.yng