Vielleicht haben es einige Leser:innen nach der Lektüre meiner letzten Kolumne bereits erahnt: ich leide an Depressionen. Seit Jahren ziehen mich Bleigewichte in die Tiefe, Tag für Tag werden sie schwerer doch der Meeresgrund bleibt mir verwehrt. Bestrebungen meinen mentalen Zustand geheim zu halten gehe ich, offensichtlich, nicht nach. Dennoch erzeugt es in mir Unbehagen, wenn Menschen, mit welchen ich eine Zwangsbeziehung pflege, mich darauf ansprechen. Ich denke etwa an meine Englischlehrerin. Sie sieht die Narben, die sich wie Efeu an meinem Arm heraufarbeiten, und fragt, wie aus einem scheinbar unstillbaren Bedürfnis heraus:
“Ritzen Sie sich?”
“Ja”
“Das ist aber nicht gut”
No shit sherlock.
Was viele, die sich nicht mit Depression auseinandersetzen, offenbar nicht begreifen: Viele von uns wollen ihre Depression gar nicht überwinden. Für mich ist die Depression kein Fremdkörper den es zu entfernen gilt; ich bin meine Depression. Und mit dieser Erkenntnis habe ich Frieden geschlossen.
Warum sind ich, und so viele andere junge Menschen, überhaupt depressiv? Die Antwort liegt auf der Hand: Die Welt in welche wir hereingeworfen wurden ist eine geprägt von Leistungsdruck, Effizienzfetischismus, patriarchaler Gewalt, sozialer Kälte und moralischer Apathie. Es ist die Welt des Kapitalismus.
Ein System das uns innerlich leer und vergeblich nach Sinn suchen lässt – wir konsumieren um die Leere zu füllen, doch unsere eigentlichen Bedürfnisse nach Sinn, Liebe oder Selbstverwirklichung bleiben unerfüllt. Wir bleiben mit der Leere allein – und depressiv. Sich diesem Zustand zu entziehen ist nicht möglich. Die kapitalistische Ideologie hat sich fast vollständig naturalisiert, heißt; wir verstehen den Kapitalismus als natürliche und logische Konsequenz menschlichen Zusammenlebens. Sie wurde uns seit Kindheitstagen eingeprägt und sich innerhalb des Systems vollständig davon zu lösen ist nicht möglich. Alternativen gibt es keine.
Diese völlige Ohnmacht macht depressiv.
Dieser völliger Mangel an Sinn macht depressiv.
Diese völlige innere Leere macht depressiv.
Dabei handelt es sich nicht um ein neues Phänomen, meine Generation, die der “Ipad-Kids”, scheint es allerdings besonders hart zu treffen – eine Generation die sich von Anfang an mit der Klimakrise auseinandersetzen musste, sich zum Scheitern verurteilten sozialen Bewegungen anschloss und ab den frühen Lebensjahren ihre Autonomie und Individualität an dieselben Silicon-Valley Gestalten abgegeben hat, die heute den US-Faschismus unterstützen und unsere Daten verticken.
“Meinen Musical.ly (Vorgängerfirma von TikTok) Account habe ich erstellt, da war ich zehn oder elf Jahre alt – seit da scrolle ich jeden einzelnen Tag” – Anonyme Mitschülerin aus meiner Schulklasse (sinngemäß)
Das Social Media depressiv macht ist keine neue Erkenntnis – doch auch diese Tatsache müssen wir im Kontext des Kapitals verstehen. Die Algorithmen mit enormen Suchtpotenzial, der gewollte Vergleich von Schönheitsidealen oder der Mangel an Moderation: all diese Dinge sind gewollt und sie ergeben in der Logik eines profitorientiertes Unternehmens nun mal Sinn.
Fassen wir zusammen: der Kapitalismus verursacht, oder fördert zumindest, die Depression – in Zeiten von Social Media können wir diesen Effekt verstärkt beobachten. Unter anderem dadurch, dass wir unserem Bedürfnis Sinn, Selbstbestimmung- und verwirklichung oder Liebe zwar nachgehen, aber etwas suchen das es in diesem System nicht gibt. Dieser Zustand ist nicht zwingend gewollt, er ist lediglich eine logische Konsequenz unseres Gesellschaftssystems. An diesem Punkt stoßen wir auf den Zynismus der kapitalistischen Depression: Wir, und damit meine ich explizit Personen im sogenannten Globalen Norden, dürfen nicht einmal richtig leiden.
In unserer Sozialisierung wurde uns antrainiert das emotionales Leiden etwas Schlechtes ist. Früh wird uns eingetrichtert, negative Emotionen zu verdrängen. Das Credo in schlechten Zeiten lautet: aufstehen, Krone richten, weiter lächeln. Sichtbar zu leiden – oder gar zu weinen – ist verpönt, ein Zeichen der geistigen und charakterlichen Schwäche.
Wir sollten uns fragen inwieweit diese Perspektive gerechtfertigt ist. Leiden ist in erster Linie eine Auseinandersetzung mit den eigenen Emotionen und eine absolut nötige Komponente für soziale Wesen. Die Freude bedingt nun mal einen wahren, nicht rein metaphorischen, Kontrast: das Leid. Dieses wird uns nicht nur durch die Sozialisierung verwehrt. Verlockend ist der Griff zu Mitteln die uns betäuben, das Versinken in den perfektionierten Algorithmus von Meta und Co, zum dritten mal in derselben Netflixserie oder in Drogen im engerem Sinne.
Diese antrainierte Verdrängung unserer negativen Emotionen könnte man zwar durch psychotherapeutische Behandlung angehen, aber wer hat schon Zeit und Geld dafür? Außerdem stehen wir unter konstantem Stress: Lohn- und Carearbeit, Uni, Schule, Kolumnen schreiben, Beziehungen pflegen, Pause machen, – diese Liste könnte ewig weitergehen. Kapazitäten, sich vertieft mit dem eigenen Leid auseinanderzusetzen, sind da kaum. So gerne würde ich mich in meine Emotionen hineinstürzen, weinen, schreien, doch es geht nicht.
Stellen wir uns die Welt in unserer Utopie vor: die Klimakrise nicht mehr Krise, die Genozide beendet, die Solidarität gelebt, die Entkolonialisierung erreicht, die Menschen frei. Auch da wird es noch emotionales Leiden geben, auch da wird es noch depressive Menschen geben, doch es wird eine Welt sein in der wir endlich Leiden können. Und zwar als Akt der Emanzipation, als Akt der Freiheit. Nicht mehr, nicht weniger.
Autor*inn
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Noctua Rosa Moser (-)
Mein Name ist Noctua, ich benutze keine Pronomen und ich lebe in Zürich – meine Mitmenschen beschreiben mich als müde, unsozial, aber dennoch liebenswert. Ich würde ein anderes Wort wählen: Elend. Wann immer ich spreche, verkriecht sich die Lebensfreude in einen dunklen Winkel, an den meisten Tagen fühle ich mich wie eine Fliege, zertrümmert zwischen Küchenfenster und Hand, noch nicht ganz tot, doch auch nicht lebendig. Wir haben uns eine Welt geschaffen, in der Kultur eine Ware, Liebe eine Dienstleistung und das Leben einzig ein Mittel zur Profitmaximierung ist; eine Welt, in der wir der kapitalistischen Ideologie unterworfen sind. In dieser Kolumne werden wir das unvollständige Leiden, den unstillbaren Durst und das unendliche Geschrei, welche diese Ideologie mit sich bringt, behandeln. Text für Text und Monat um Monat werden wir gemeinsam leiden, trinken und schreien – wenn schon nicht aus Hoffnung, dann wenigstens aus Trotz.