Oury Jalloh, Nelson, Lorenz oder zuletzt das zwölfjährige gehörlose Mädchen, auf das von der Polizei in Bochum geschossen wurde. Immer wieder erfahren wir von Menschen, die von der Polizei ermordet wurden oder infolge von Polizeigewalt sterben. Der Zustand des gehörlosen Mädchens ist noch unklar, doch sie wurde lebensgefährlich verletzt. In den voreiligen und widersprüchlichen Behauptungen der Polizei über die vermeintliche Bedrohung, die von dem Mädchen ausgegangen sein soll, sieht man dasselbe Muster, in dem Polizist:innen sich gegenseitig schützen und Aufklärung & Konsequenzen von Angehörigen und Unterstützer:innen erkämpft werden müssen.
Diese Morde sind jedoch nur die Spitze des Eisbergs der Polizeigewalt. Sie entstehen aus einem System, in dem bestimmte Menschen kriminalisiert, überwacht und als verdächtig eingeordnet werden. Das beginnt mit racial Profiling, geht über Knäste und Abschiebeknäste, bis hin zur Tatsache, dass man seiner Freiheit beraubt werden kann, wenn man kein Ticket in den Öffis hat. Die Polizei ist die ausführende Gewalt, die die Strafen umsetzt, die zuvor in Diskursen zum Beispiel von vermeintlich faulen Bürgergeldempfänger:innen etabliert wurden. In den Talkshows, Bundestagsdebatten und Gesetzesentwürfen, die Bürgergeldempfänger:innen kriminalisieren, statt reiche Steuerbetrüger:innen oder menschenrechtsverletzende und ausbeuterische Konzerne.
Was oft entsteht, nachdem ein neuer Fall von Polizeigewalt oder Mord bekannt wird, ist die Debatte darüber, ob das Handeln der Polizist:innen verhältnismäßig war. Spoiler: Die Antwort ist natürlich nein, das Töten einer Person ist natürlich nicht verhältnismäßig zu irgendeiner vermeintlichen Straftat, gibt ja auch keine Todesstrafe mehr hier. Gleichzeitig ist die Ausgangsfrage schon eine Zwickmühle, weil sie annimmt, dass es ein Maß der Gewalt gibt, das richtig gewesen wäre.
Nach einer Großdemo in Lützerath, einem Dorf im rheinischen Braunkohlerevier, das besetzt wurde, um die Kohle darunter im Boden zu lassen, ging es auch darum, die Polizeigewalt aufzuarbeiten. Auch hier wurde argumentiert, dass die Schläge auf den Kopf der Demonstrant:innen nicht besonders verhältnismäßig waren. Aber wieder die Frage: Welches Maß wäre vertretbar gewesen? Worüber spricht man also: Wie viele Kopfverletzungen es gab? Dass für marginalisierte Menschen Polizeigewalt nichts Neues ist? Dass eine Anklage der Polizist:innen wahrscheinlich keinen Erfolg haben wird? Sollte man unabhängige Stellen fordern, die die Polizei kontrollieren? Auch mit einer solchen Stelle bliebe die Gewalt des Staates und die Frage, welche öffentliche Ordnung er überhaupt herstellt, unhinterfragt.
Wenn man nach einem besonders brutalen Einsatz Reformen der Polizei fordert, birgt es die Gefahr, die alltägliche Gewalt dieser Institution zu normalisieren. Fordert man die Abschaffung der Polizei, muss man wiederum gut erklären, welche Funktion sie im Kern hat und wieso dieser Kern von Anfang an nicht den gleichen Schutz aller vorgesehen hat: Dass man diese Institution abschaffen und andere Strukturen aufbauen muss, um tatsächlich an einer Sicherheit für alle zu arbeiten. Denn wir wissen, dass die Polizei keine Sicherheit bringt und vor allem eine ausbeuterische Ordnung schützt. Und obwohl viele Leute das aus eigener Erfahrung wissen – Schwarze, migrantische und Menschen in psychischen Notlagen und in aller Regel von Armut betroffene Menschen – fand ich es immer schwer, gut zu erklären, wieso das so ist. Außer platt zu sagen: Das liegt am Kapitalismus und Rassismus. Vor allem, weil die Polizei als etwas so “Natürliches” dargestellt wird, als wäre sie immer schon da gewesen und ohne sie das absolute Chaos ausbrechen würde.
In Lützerath war es einfacher für mich zu verstehen: Klar, die Polizei, die Gewalt des Staates, schützt ihre Herrschafts- und Eigentumsverhältnisse: Wir kriegen aufs Maul, weil die Polizei die Eigentumsrechte, in dem Fall von RWE, schützt. Aber bei Oury Jalloh, Nelson, Lorenz oder dem gehörlosen Mädchen? Welche “Ordnung” haben sie gestört?
Was mir sehr geholfen hat, eine Erklärung zu finden, war der Text „Polizei und Rassismus in Deutschland: eine historische Genese“ von Lea Pilone. Er ist Teil des Sammelbands: „Die Diversität der Ausbeutung – zur Kritik des herrschenden Antirassismus“ (Q1). Darin geht es darum, statt einem liberalen Rassismusbegriff – in dem Repräsentation, Identitätspolitik und Diskriminierung als Denkmuster oder Awareness-Problem in den Mittelpunkt gestellt werden – eine sogenannte materialistische Analyse anzuwenden. Das heißt, man analysiert die materiellen, also physischen und wirtschaftlichen Bedingungen, um gesellschaftliche Verhältnisse zu erklären. Im Buch wird beschrieben, wie Rassismus und andere Diskriminierungsformen als Legitimierung für Ausbeutung genutzt wurden. Danach entstand also Sklaverei nicht, weil die Europäer:innen schon immer rassistisch waren, sondern die Rassentheorie entstand und wurde genutzt, um Sklaverei zu rechtfertigen. So nutzte es den Kolonisator:innen, z. B. Schwarze Menschen als besonders stark, aber dumm und wertlos darzustellen und so zu tun, als wäre es “natürlich”, sie für einen ohne Lohn arbeiten zu lassen. Deswegen war es sehr spannend, sich die Geschichte der Polizei anzuschauen, um besser zu verstehen, welchem Zweck sie entstand:
Die Ursprünge der Polizei in Europa entstanden im Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus. Wo heute Deutschland ist, wurden damals ab dem 17. und 18. Jahrhundert von Königs- und Fürstenhäusern sogenannte Policeyordnungen eingeführt, mit dem Ziel, „Sicherheit und öffentliche Ordnung“ herzustellen.
Im Mittelpunkt polizeilicher Arbeit standen damals vor allem die armen Schichten, die als Gefahr für die neue öffentliche Ordnung galten: Vagabunden & Landstreicher:innen (viele von ihnen wurden erst durch die gewaltvolle Enteignung durch Privatisierung von Land mittellos), Bettler:innen, Diebes- und Räuberbanden und Prostituierte. Ihr Verhalten verursachte keinen großen sozialen Schaden und sie verletzten damit kaum andere Menschen. Das „Problem“ war stattdessen, dass die Menschen, die für Lohn arbeiten sollten, genau das nicht taten. Ein schottischer Polizeitheoretiker Patrick Colquhoun sagte 1799, dass Arbeit „für die Existenz aller Regierungen absolut notwendig“ sei, aber „nur von Armen erwartet werden kann“. Deswegen schlug er vor, die „Klasse der Bedürftigen“ polizeilich zu identifizieren und sie davon abzuhalten, kriminell zu werden, statt zu arbeiten.
Sogenannte Vagabund:innen waren ein Problem für die neue Ordnung, da es damals keine zentral abrufbare Datenbank gab und man die „arbeitsscheuen und mittellosen“ am besten kontrollieren konnte, wenn man Informationen über ihre Vorstrafen hatte, die es nur lokal gab. Auch das Betteln wurde besonders kriminalisiert, da es eine Art war, den Lebensunterhalt zu sichern – außerhalb von Lohnarbeit. Alle, die körperlich hätten lohnarbeiten können, dies aber nicht taten, wurden als undiszipliniert und faul abgestempelt und sollten zum Arbeiten diszipliniert und strafrechtlich verfolgt werden.
Auch besonders kriminalisiert und als Sicherheitsbedrohung dargestellt wurden Rom:nja und Sinti:zze und damals sogenannte Betteljuden.
Nachdem seit dem 14. Jahrhundert die Vertreibung von Rom:nja und Sinti:zze zunahm, verhinderten Einreiseverbote, Abschiebungen oder Einschränkungen in der Gewerbeausübung, dass sie sich ansiedeln konnten. In vielen deutschen Territorien war ihnen im 18. Jahrhundert der Zutritt verboten und ihnen drohte teilweise sogar die Todesstrafe, wenn sie es doch taten. Im 17. Jahrhundert gab es in diversen Gemeinden außerdem Anweisungen, „fremde Betteljuden“ nicht aufzunehmen.
Um die „fremden Armen“ besser fernzuhalten und zu überwachen, führten Städte Ein- und Ausreisegebühren und Kontrollpunkte ein. Auch die Einführung von Pässen und Passkontrollen zur Überwachung „der fremden Armen“ war sehr wichtig für den Aufbau von Polizeiapparaten und diente dem Zweck, einerseits nicht für die Fürsorge von „fremden Armen“ aufkommen zu müssen und sie gleichzeitig davon abzuhalten, kriminell zu werden, statt der Lohnarbeit nachzugehen. Selbst Interpol, die Internationale kriminalpolizeiliche Organisation, hat ihren Ursprung teilweise in der Überwachung von Rom:nja und Sinti:zze.
Ich habe also gelernt, dass die Polizei nicht entstanden ist, um eine allgemeine Sicherheit zu schaffen, sondern zu großen Teilen, um eine Klasse von besitzlosen Menschen polizeilich zu identifizieren und sie davon abzuhalten, „kriminell“ zu werden, statt für Lohn zu arbeiten. Sicherheitsbedrohungen wurden konstruiert – damals z. B. bei Rom:nja und Sinti:zze und Betteljuden – um sie besser überwachen, bestrafen und kontrollieren zu können.
Polizei heute
Die Analyse von Lea Pilone ergibt: Mit der Erfordernis der Polizeiarbeit im Kapitalismus, die Armen zu überwachen, ergibt sich heute, die überausgebeuteten migrantischen Teile der Arbeiterklasse polizeilich stärker zu beobachten. Denn heute arbeiten in Deutschland im Niedriglohnsektor vor allem migrantische Arbeitskräfte und werden in der Regel schlechter bezahlt als ihre deutschen Kolleg:innen. 2019 war das Armutsrisiko von Menschen mit Migrationshintergrund mehr als doppelt so hoch wie bei Menschen ohne (27,8 gegenüber 11,7 Prozent) (Q2).
Ich denke, wenn ein Cop morgens zur Arbeit fährt, denkt er nicht: „Heute sichern wir wieder die Ausbeutung der Armen, indem wir sie kontrollieren und bestrafen. Am besten konstruieren wir dafür ein rassistisches Bild von Geflüchteten und Migrant:innen als besonders kriminell.“ Trotzdem erfüllt ihre Arbeit diese Rolle – geleitet von klassistischem und rassistischem Aufenthalts-, Sozial- und Strafrecht, das besonders schlechte Voraussetzungen für eine bestimmte Gruppe an Menschen ermöglicht und sie oft in besonders prekäre Lohnarbeit zwingt.
Wenn man sich vor Augen führt, dass die Polizei nicht zur Sicherheit Aller, sondern zur besonderen Kontrolle einer bestimmten Klasse – der Armen – entstanden ist und rassistische Kriminalisierung dafür nutzt, wird es einfacher zu verstehen, wieso wir sie nicht brauchen.
Dann kann man darüber nachdenken, welche Strukturen wir wirklich für unser aller Sicherheit und Fürsorge brauchen!
Quellen:
(Q1) Polizei und Rassismus in Deutschland: eine historische Genese. In: Eleonora Roldán Mendívil/Bafta Sarbo (Hg.): Die Diversität der Ausbeutung. Zur Kritik des herrschenden Antirassismus. S.121-139.
Autor:in
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Alex (sie/ihr)

Ich bin Alex (Sie/Ihr) und durch die Klimagerechtigkeitsbewegung politisiert und in Lützerath radikalisiert. Im Moment studiere ich soziale Arbeit mit dem Schwerpunkt Migration und Flucht und arbeite als Assistenz für eine be_hinderte Freundin. In den letzten Jahren habe ich politisch – neben Klimagerechtigkeit – vor allem zu Anti-Militarismus und Palästina-Solidarität gearbeitet. Gerade interessiere ich mich für Care-Arbeit und Abolitionismus. Ich werde in meiner Kolumne darüber schreiben, was mich in unseren Bewegungen beschäftigt. Von guten Nachrichten und Errungenschaften bis zu Kritik an unseren Bubbles wird alles dabei sein. Ganz nach dem Motto: Wie können wir uns umeinander kümmern, um für ein gutes Leben für Alle zu Kämpfen?
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