KolumnenWie unser Selbstbild Frieden schafft

Wie unser Selbstbild Frieden schafft

Was, wenn Frieden im Klassenzimmer beginnt? – Ein psychologisches Prinzip aus der Schule könnte die Weltpolitik verändern. Carol Dwecks „Growth Mindset“ zeigt: Wer an Veränderung glaubt – in Kindern, Teams oder Gegnern – spricht anders, hört anders, urteilt weniger. Vielleicht beginnt Frieden dort, wo wir aufhören, einander für unveränderbar zu halten.


Ein psychologisches Prinzip aus der Erziehung berührt die Weltpolitik.

Es war ein gewöhnlicher Arbeitstag. Die Sonne schien in unseren Seminarraum und warf dekorative Schatten auf das Parkett. Mein Co-Trainer und ich hatten den Raum hergerichtet – mit Blumen, einer Snack-Bar und einem Materialtisch. Der dritte Tag unseres Kommunikationstrainings stand bevor. Wir folgen immer derselben Agenda – doch langweilig wird es nie, denn jede Gruppe bringt eigene Fragen, Erfahrungen und Anliegen mit. Aber dieser Tag sollte anders verlaufen, aus Gründen, die ich mir nicht hätte ausmalen können. Mit dem jüngsten militärischen Angriff der Hamas auf Israel und dem fortgesetzten Völkermord in Gaza, hätte ich nicht erwartet, dass diese Tragödie eine solche Resonanz auf unser Seminar haben würde.

In unseren mehrtägigen Trainings geht es um die Förderung des Miteinanders – durch bewusste Kommunikation und emotionale Intelligenz. An diesem Tag stand das Growth Mindset auf dem Programm. Es ist das Lebenswerk der Stanford-Professorin Carol Dweck: die Erforschung des Selbstbilds und seines mächtigen Einflusses auf Lernen, persönliche Entwicklung und erfolgreiches Zusammenleben.

Ein Growth Mindset ist die Überzeugung von sich selbst, dass Fähigkeiten, Intelligenz und Talente durch Anstrengung, Übung und Ausdauer wachsen können. Menschen mit einem Growth Mindset sehen Herausforderungen als Lernchancen. Sie nutzen Fehler, um besser zu werden. Wenn sie „hinfallen“, stehen sie wieder auf, „richten ihr Krönchen“ und gehen weiter. Menschen mit einem Fixed Mindset hingegen sind davon überzeugt, Intelligenz und Begabung seien angeboren – und damit unveränderbar. Sie fürchten Fehler, weil sie diese als persönlichen Mangel empfinden.

In meiner Arbeit als Lehrerin, Kommunikationstrainerin und systemische Coachin erlebe ich es täglich, dass nichts in dieser Welt in Stein gemeißelt ist – kein Charakterzug, kein Konflikt, keine Kultur. Das Growth Mindset zeigt, wie stark unser Selbstbild unsere Entwicklung prägt – persönlich, beruflich und gesellschaftlich. Faszinierend ist, dass es überall wirkt, wo es um Veränderung und Fortschritt geht, im Kleinen wie im Großen. Zu Hause und in der Weltpolitik.

In meinen Seminaren für Lehrkräfte und Kindergärtner:innen erzähle ich immer von einer experimentellen Studie zum Growth Mindset, in der vierjährige Kinder ein Puzzle bekamen. War es gelöst, konnten sie das gleiche Puzzle noch einmal oder ein schwierigeres wählen. Kinder mit einem Fixed Mindset wählten das einfache Puzzle, um den Erfolg zu wiederholen. Sie machten also keine Fortschritte. Kinder mit einem Growth Mindset entschieden sich für das schwerere Puzzle. Sie liebten die Herausforderung und hatten keine Angst vor Fehlern.

Ich erzähle auch davon, dass Dwecks Studien zeigen, dass sich ein Growth Mindset bei Kindern entwickeln lässt – durch einfache Interventionen, etwa einer bestimmten Feedbackkultur. Jede Form von Rückmeldung beeinflusst das Selbstbild, auch ausbleibendes Feedback. Statt einer statischen Annahme „Max schafft es eh nie über eine 3“, gilt es, eine dynamische Sichtweise zu fördern und das Wachstumspotenzial aufzuzeigen: „Er hat noch keine 1, weil…“. Eine Growth-Mindset-Lehrkraft versucht, Schüler:innen beim Erfolg „zu erwischen“ – „catch them being good“ ist die Devise. Sie muss auch die Anstrengung anerkennen: „Hier in deinem Rechenweg sehe ich, dass du dich intensiv mit dem Thema auseinandergesetzt hast.“ Motivation und Lernerfolg hängen stark vom Mindset der Lehrkraft ab. Kinder übernehmen unterbewusst die innere Überzeugung der Lehrkraft. Glaubt die Lehrkraft an das Wachstumspotential, verbessert sich laut Studien die Leistung der Schüler:innen messbar.

In Island ist das Growth Mindset inzwischen Alltag an Schulen, wie ich auf einer Dienstreise neulich erfahren durfte. In Deutschland ist das Konzept vielen noch fremd, wie ich ebenfalls regelmäßig erfahre in meinen Seminaren und im bildungspolitischen Diskurs. Wenn wir lernen wollen, anders miteinander zu sprechen, müssen wir aber bei den Kindern beginnen – weil es dort leichter ist, positive Grundlagen zu legen. Auch wenn das teuer ist. Für eine starke Gesellschaft braucht es Geld. Viel mehr als die 20 Milliarden Euro, die Bund und Länder gerade für das Startchancen-Programm an Schulen locker machen.

Auch die Konfliktkultur der Schüler:innen wird durch das Selbstbild übrigens beeinflusst. Highschool-Schüler:innen, denen eine wachstumsorientierte Sicht auf Charakter vermittelt wurde, hatten nach Konflikten mit Gleichaltrigen weniger Rachefantasien und Aggressionen. Die in meinen Augen frappierendste Erkenntnis aus Dwecks Studien von 2016 ist: Die einzigen Orte, an denen es mehr Konflikte gibt als in den politischen Konfliktregionen zwischen Israel und Palästina („Middle East“), sind Highschools. Wo wir in der Bildungspolitik falsch abgebogen sind, frage ich mich als Lehrerin schon lange.

Richte ich mein Seminar an Eltern, erkläre ich, warum wohlgemeintes Lob ein Fixed Mindset, ein statisches Selbstbild, bei den Kindern erzeugen kann und sogar negative Reaktionen fördert. Wörter wie „wundervoll“ oder „prima“ sind Bewertungen, keine Beschreibungen. Sie können angezweifelt werden. Beschreibungen hingegen beziehen sich auf beobachtbare Tatsachen: „Du hast die Teller mit bisschen Abstand in die Spülmaschine eingeräumt, damit alles richtig sauber wird.“ Auch Fortschritte und Bemühungen sollten Eltern beschreiben: „Als es kniffelig wurde, hast Du rumprobiert, bis es passt.“ Werden Kinder für ihre Fortschritte gelobt, wächst ein dynamisches Selbstbild. Loben wir nur Talent oder Endergebnis, entsteht oft ein Fixed Mindset. Die Forschung hat mittlerweile belegt, dass globale Lobhudeleien wie „genial“ dem Selbstvertrauen und der Lernbereitschaft der Kinder sogar schadet und sie das Vertrauen in ihre Fähigkeiten verlieren – aus Angst, dass das überschwängliche Loben ausbleibt.

Richtet sich mein Seminar an Führungskräfte, zeige ich noch einen weiteren Aspekt, wie ein Growth Mindset im Unternehmenskontext wirkt – also auch noch im Erwachsenenalter erfolgreich entwickelt werden kann. Unternehmen, die es implementieren, messen Erfolge auch monetär, weil ihre Mitarbeitenden besser wirtschaften. Growth Mindset-Unternehmen setzen ihre Mitarbeitenden nicht nur dort ein, wo sie deren vermeintliches Talent sehen, sondern sie erkennen deren Potenzial. Dadurch fühlen sich die Mitarbeitenden eher in der Lage, dazuzulernen, etwas zu kreieren und Neuerungen einzuführen. Auf die Teamarbeit haben solche Veränderungsprozesse einen noch viel größeren Einfluss, als auf den einzelnen. Teams, die erkannt haben, dass eine Gruppendynamik nicht statisch ist, sondern wachsen und sich entwickeln kann, waren eher dazu bereit, Kompromisse einzugehen – zugunsten des Friedens.

Diese Erkenntnisse ziehen meine Seminarteilnehmenden immer in den Bann. Mir geht es genauso, immer aufs Neue. Sie beweisen, dass Veränderung nicht nur im Kleinen, sondern auch im Großen möglich ist und ein Perspektivwechsel von einer unermesslichen Tragweite sein kann. Sie beweisen, wie stark unser Selbstbild unser Handeln in der Welt prägt und unsere Lebensweise verändern kann – und zu Frieden beitragen kann.

An jenem sonnigen Tag erzählte ich einer Gruppe von Führungskräften von den Growth-Mindset-Unternehmen – und stockte bei dem Wort „Frieden“. Nach dem 7. Oktober 2023 dachte ich unweigerlich an Dwecks Studien zur Kommunikation zwischen Palästinenser:innen und Israelis. In ihrer Forschung, die erst sieben Jahre zurück lag, zeigte sich: Wer Wachstumspotenzial in Gruppen sieht, geht eher aufeinander zu. Ich fragte mich, ob ich die Forschung unglaubwürdig mache, wenn ich gerade jetzt darüber berichte. Doch die Studien waren real und fundiert. Ich fasste mir ein Herz und erzählte von der für mich berührendsten Forschungsreihe, die auf den klassischen Studien zum Growth Mindset vom Dweck aufbaut.

Amit Goldenberg, Doktorand bei Carol Dweck und James Gross, veröffentlichte 2016 zusammen mit Kinneret Endevelt, Eran Halperin und Shira Ran eine Studie in „Social Psychological and Personality Science“. In einem Forschungsprogramm zu den politischen Konfliktregionen zwischen Israel und Palästina zeigte sie, dass Palästinenser:innen und Israelis mit einem Growth Mindset positivere Einstellungen zueinander hatten und eher bereit waren, Kompromisse einzugehen. Der Grund dafür ist, dass Menschen mit wachstumsorientierter Denkweise Stress besser bewältigen können und Konflikte eher als Herausforderungen betrachten. Untersucht wurden hierbei die Annahmen, die jüdisch-israelische und palästinensisch-israelische Teenager voneinander hatten: Ob der moralische Charakter der anderen Gruppe feststeht oder sich ändern kann. Die Jugendlichen lasen hierfür einen Zeitungsartikel, in dem argumentiert wurde, dass sich Gruppen verändern können. Ein bestimmter Gegner war in dem Artikel nicht erwähnt. Allein durch die neu gewonnene Annahme, dass sich Menschen verändern können, neigten die Jugendlichen dazu, keine pauschalen Urteile zu fällen. Die Studie hat u. a. gezeigt, dass die positive Annahme über das Wachstumspotential einer gegnerischen Gruppe, eine Schlüsselrolle in Konflikten spielen kann.

Das gilt offensichtlich im Kleinen wie im Großen. Zu Hause in der eigenen Familie, auf der Arbeit und sogar in langjährigen politischen Konflikten. Nichts ist statisch. Veränderung ist möglich und die Implikationen sind immens. Wenn kleine Interventionen schon eine solche Wirkung zeigen, warum werden sie politisch nicht genutzt? Haben Politiker:innen und Diplomat:innen so einen verengten Fokus, dass bewährte Konzepte oft übersehen werden?

Ich bin keine Politikwissenschaftlerin, aber als Pädagogin und Kommunikationstrainerin erkenne ich dieselben psychologischen Mechanismen – im Klassenzimmer, in Familien und in Unternehmen. Und offensichtlich wirken sie auch in der Weltpolitik.

Natürlich löst ein psychologisches Prinzip keinen jahrzehntelangen Konflikt. Ich maße mir nicht an, Menschen einen Rat zu geben – erst recht nicht, wenn sie Vertreibung, unmenschliche Gewalt oder gar Genozid erlebt haben. Es wäre vermessen und zutiefst anmaßend, ihnen zu sagen, sie bräuchten nur das richtige Mindset, um Frieden zu finden.

Nein – ich möchte auf ein kleines Fünkchen Hoffnung hinweisen: Veränderung beginnt in den Köpfen. Wer an Wandel glaubt, spricht anders, hört anders zu und verurteilt weniger.

Jeder Beitrag, der hilft, Denkweisen zu verändern, ist wertvoll. Wenn wir lernen, das Wachstumspotenzial in unseren Kindern, Kolleg:innen, Partner:innen – und sogar in Gegner:innen – zu sehen, dann beginnt Frieden genau dort, wo wir hinschauen: dort, wo wir aufhören, einander für unveränderbar zu halten.

Nun haben die Vermittlerstaaten die Waffenruhe zwischen Israel und der Hamas formell besiegelt – doch die humanitäre Katastrophe hat Spuren hinterlassen, die kein Abkommen heilen kann. Da braucht man sich keine Illusionen machen. Das Erlebte wirkt in den Köpfen und Traumata weiter. Erst wenn unsere Kinder lernen, dass sie sich verändern können, verändert das ihr Denken, ihre Beziehungen, ihr Leben. Vielleicht beginnt Frieden genau dort, wo wir unseren Kindern beibringen, dass nichts verloren ist.

Autor:in
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    Das Bild zeigt ein fotografiertes Portrait von einer weißen Person mit schulterlangen braunen Haaren in einem Seitenscheitel gestylt, einer schwarzen großen Brille und einem großen Lächeln. An ihren Ohren trägt sie Perlenohrringe. Sie trägt ein graues T-Shirt und darüber ein schwarzes Jackett. Das Fpoto ist vor einem grauen Hintergrund aufgenommen, welcher schwach an ein Gebäude aus Beton erinnert.Johanna arbeitet als systemische Coachin, Trainerin für authentische und diplomatische Kommunikation, Alexandertechniklehrerin für Körpersprache, Fachschaftsleitung und Lehrerin am bilingualen Gymnasium, Leitung eines Schulentwicklungsteams, Erster Vorstand des Instituts zur Stärkung der Erziehungskompetenz e. V. und Obfrau & stellv. Delegierte im Bayerischen Philologenverband.

     

    In allen Rollen begleitet sie Menschen und Teams dabei, mit sich und anderen in echten Kontakt zu kommen. Durch ihre Erfahrungen aus Bildung, Führung und Verbandsarbeit vertritt sie die Überzeugung: Jede Methode und jeder Verständigungsversuch steht und fällt mit der eigenen inneren Haltung.

     

    Für DRUCK schreibt Johanna über emotional intelligente Kommunikation. Ihre Vision ist es, das schwindende Vertrauen in die Meinungsfreiheit wieder zu stärken – durch eine diplomatische Gesprächskultur und indem sie die Meinungsvielfalt abbildet.

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